Kritiken Theater, Oper, Ausstellungen, Installationen



Vorankündigung/ Kritik der bespielten Videoinstallation, schwere reiter München


unwritten archives - (re)constructing the past, München 2023

Süddeutsche Zeitung, 7. September 2023


Zu Besuch im Land der Täter


von Egbert Tholl
München - Immer wieder läuft in Ausschnitten der grässliche Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha über das Schriftband. Später wird er auch verlesen. ,,Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen:[...]Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr (Kanone) dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder 

Mit dabei sind fünf Nachfahren derer, die damals vernichtet werden sollten

Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinde mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero." Von Trotha ergänzt noch, dass das Schießen auf Frauen und Kinder so zu verstehen sei, dass man über deren Köpfe hinwegschießen soll, dann würden die schon davonlaufen und die Truppe wird sich „des guten Rufes des Deutschen Soldaten" bewusst bleiben.

Kurzer, sehr verknappter historischer Abriss. 1884 verteilten die Kolonialmächte auf der Berliner Kongo-Konferenz die noch nicht unter ihrer Herrschaft stehenden Gebiete Afrikas, Deutschland erhielt unter anderem das Gebiet des heutigen Namibia. Die Kolonialherren zerstörten in „Deutsch-Südwestafrika" die Strukturen der indigenen Bevölkerung, zwangen Herero und Nama, für sie zu schuften, Epidemien brachen aus, schließlich kam es zu Aufständen, einfach, weil die völlig verarmte Bevölkerung überleben wollte.

Berlin schickte General von Trotha, der von 1904 an die Aufstände brutal niederschlug, nach der Schlacht am Waterberg alle Wasservorkommen in der Omaheke­ Wüste besetzen und die dorthin Geflohenen verdursten ließ. 1911 waren von den circa 80 000 Herero noch 15 000 am Leben, über 10 000 Nama wurden getötet. Erst 2021konnte sich die Bunderegierung dazu durchringen, sich zu entschuldigen, und stellte 1,1 Milliarden Euro „intensivierte Entwicklungshilfe" auf 30 Jahre in Aussicht. Das Geld geht allerdings an die namibische Regierung, nicht unmittelbar an die Nachfahren der Herero, Nama und der anderen Stämme, die unter der Kolonialherrschaft vernichtet werden sollten.

Wenn man begreifen, erspüren will, was das alles für Namibia heute bedeutet, dann muss man ins Schwere Reiter gehen. Dort zeigt Sebastian Hirn seine Aufführung, Performance, Videoinstallation „unwritten archives - (re)constructing the past" am 7., 8. und 9. September. Mit dabei: fünf Nachkommen derer, die damals von den Deutschen vernichtet werden sollten.

Sebastian Hirn lässt nicht los, wenn er auf ein Thema stößt. Jahrelang hat er zum Beispiel an einer Video-Installation über Friedensaktivisten aus Europa und den USA gearbeitet, die vor Beginn des Kriegs 2003 als „Human Shields" in den Irak gingen, um mit ihren Körpern vor allem für die Infrastrukturwichtige Gebäude zu schützen, monatelang fuhr er dafür in den USA herum, traf Veteranen des Kriegs, Aktivisten. Und jetzt fuhr er nach Namibia.
Der Völkermord an den Herero und Nama beschäftigt ihn seit seiner Schulzeit. Der wurde in Deutschland verdrängt, aber überall stehen hier Denkmäler aus wilhelminischer Zeit herum, viele von Bismarck, der damals die Kongo-Konferenz einberief. Dann kam Corona, drinnen konnte man kein Theater mehr machen, also bespielte Hirn mit Tänzerinnen die Denkmäler - die Aufnahmen davon sieht man jetzt in der Aufführung. Gleichzeitig erwachte Hirns Interesse, sich mit Traumata und deren Weitergabe über Generationen hinweg zu beschäftigen.

Also Namibia. Auf zwei Reisen traf er zunächst die Aktivistin Hildegard Titus aus dem Volk der Owambo, jung und rasant im Denken. Die brachte Hirn in Kontakt mit Performance-Künstlern wie Muningandu Hoveka und Gift Uzera, dazu kamen Stephanus Sylvester Swartbooi, Veteran aus dem Unabhängigkeitskampf Namibias gegen Südafrika (durch Beteiligung Angolas im Kern ein Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West), und Prince Marenga Kambazembi. Die Fünf, Vertreter der Herero, Nama und Owambo, sind nun in München mit dabei, als Performer, als sie selbst.

"Unwritten archives" ist ein überbordendes Tableau, so breit wie tief. Hirn führte in Namibia viele Video-Interviews, ein Bruchteil ist in der Aufführung zu sehen. Zum Beispiel Harry Schneider-Waterberg, der am Ort der vernichtenden Niederlage der Herero eine Lodge betreibt, sich als Hobby­Historiker betätigt und eine etwas eigenwillige Sicht auf die Geschichte hat. Man sieht verschiedene Vertreter von Clans und Interessengemeinschaften der Herero oder Nama, einen Laienprediger, eine Journalistin. Allein schon deren Aussagen machen die Heterogenität des Umgangs mit der Geschichte deutlich. Die Vertreter der indigenen Bevölkerung etwa sind der Meinung, Deutschland hätte doch besser mit ihnen reden sollen, als es um das ging, was explizit nun Entwicklungshilfe und nicht Entschädigung heißt. Das ist nur ein Splitter in dem Gesamtgefüge.

Auf der Bühne: die Fünf aus Namibia, die Tänzerin Julia Keren Turbahn, die Schauspielerin Ines Hollinger, der Schauspieler Andreas Bittl, der Musiker Florian Götte (und zwei Pferde).

Nach dem Besuch einer Probe der Aufführung im Rohzustand ist man übervoll mit Aussagen aus Namibia heute, Briefen von Missionaren damals, die ihr Entsetzen äußern, aber auch seltsam blasiert bleiben, Splittern wilhelminischer Großmachtfantasien, Kirchenliedern (die deutsche Gemeinde dort war sehr lutherisch geprägt), aber auch einem betörend schönen afrikanischen Lied.

Man hört die Wut in den Worten der Herero, man sieht eine Choreographie von gefangenen, versehrten, ihrer Seelen beraubten Menschen, man bewundert die Fünf aus Namibia. Das alles ist eingebettet in die raumfüllenden Filmaufnahmen. Der Friedhof der Weißen, Marmorgräber. Der der toten Herero: Hügel aus Sand, die immer wieder neu gebaut werden müssen, weil der Wind sie verweht. Die Haifisch-Insel, Ort des Konzentrationslagers. Die Wüste, in die die Herero getrieben wurden. Aber auch Singen im Gemeindesaal. Und schließlich: das Gedenken. Ein Denkmal im Sand, ein Trompeter am Meer. Genozid­Erinnerungstag. Die Trompete soll die Seelen der Toten aufwecken. Weil sie nicht vergessen sind.